Mader : Fakten - Fälle - Fotos®
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1.3.7 Allgemeinmedizinische Notfälle

Zusatzinfo

Meist dramatische Situationen (z.B. massive Blutung, Polytrauma) stellen für den Allgemeinarzt in seiner Praxisroutine eine absolute Rarität dar; bei ihnen liegt der AGV ganz offensichtlich auf der Hand.

Eher schon muss der Allgemeinarzt mit jenen äußerst dringlichen Fällen rechnen, bei denen die Notfallsituation und damit der AGV nicht gleich „auf den ersten Blick“ ersichtlich sind, bei denen aber dennoch rasches Handeln erforderlich ist (z.B. plötzliche einseitige Sehstörung, Bild einer eingeklemmten Hernie, psychische Kompensation nach Trauerfall, akute Sprechstörung, spritzende Blutung aus Ulcus cruris, Schock bei Hyposensibilisierung). Bei diesen allgemeinmedizinischen Notfällen fühlt sich der Patient auch subjektiv in seiner Gesundheit bedroht, selbst wenn keine Gefahr vorliegt (Abholz und Pillau 2012). Andererseits kennt auch der Laie mache sich wiederholende Notfälle und geht oftmals routiniert damit um (z.B. fieberkrampf beim Kleinkind, epileptischer Anfall, akute Unterzuckerung, Insektenstich, „Ohnmacht“ nach längerem Stehen).

Es gibt eine einheitliche Definition dieser Notfälle, entsprechend gib es auch keine verlässlichen Zahlen. Das Handeln orientiert sich an der Dringlichkeit im Einzelfall. Im geringsten Zweifelsfall ist die Verantwortung mit dem Spezialisten zu teilen.

Merke
Der Allgemeinarzt muss im Bewusstsein der Banalität der überwältigenden Fälle dennoch stets auf den seltenen AGV scharf eingestellt bleiben (Braun 1994).

Jeder allgemeinmedizinischer Notfall muss als „Notfall“ behandelt werden, was zählt ist das subjektive Erleben des Patienten, der sich in Not erlebt (Abholz und Pillau 2014).


Ärztliche Erstversorgung von Notfallpatienten in der Praxis und beim Hausbesuch

Der österreichische Allgemeinarzt und Lehrbeauftragte an der Med. Universität Graz, Dr.med. MR Peter Sigmund,  hat (zusammen mit dem rettungsdienstlichen Beirat Dr.med. Klaus Steinwendter) für die Akademie der Ärzte ein praxisorientiertes Skriptum mit entsprechenden Handlungsplänen (Version 2017) als elektronisches Lehr-/Lernobjekt erstellt und unserer Internetplattform "Mader - Fakten - Faelle - Fotos®" als pdf. freundlicherweise überlassen.

Das mögliche Notfallszenario betrifft Patienten mit:
- Bewusstlosigkeit
- Brustschmerz
- akuter Atemnot
- akuter neurologischer Symptomatik
- Krampfanfall
- Trauma


Fallbeispiel

Kasuistik 1.3.7-1: "In der Notfallpraxis: War`s das ISG oder die Familienkrise?"

Der Allgemeinarzt und Psychosomatiker Dr. med. Gernot Rüter, Benningen, berichtete im Listserver von einem Fall aus seiner Notfallsprechstunde, wo hinter einer zunächst nach aussen hin ganz dramatischen  Situation letztlich eine problematische Lebenssituation stand :

"Am Samstag beschäftigte mich in der Notfallpraxis ungefähr eine ¾ Stunde lang eine ca. 40-jährige Patientin, die mit schwersten Schmerzen im linken Becken-Unterbauchbereich gekommen war. Sie drängte die MFAs, sie an den Wartenden vorbei dran zu nehmen. Sie saß in einem Vorwartebereich, bis eine MFA mich holte – die Patientin drohte zu hyperventilieren und war kaum zu gehen imstande, konnte nicht aufs linke Bein auftreten oder das Hüftgelenk strecken. Ich fand eine ISG-Blockierung, der Bauch erschien mir unauff., das Notlabor war unergiebig. 

Während der Untersuchung sprachen wir über ihre Lebenssituation. Hier ergab sich eine Paar- und Familienkrise: es gibt einen 7-jährigen Sohn, der nicht Sohn des aktuellen Lebenspartners ist, hohe Belastung durch Mehrfachaufgaben, Trennungs- und Versöhnungssituation. Mein Vorgehen : Manuelles Lösen des ISG. Meine Erklärungen, dass Lebenssituation, Spannung, Schmerz und Blockierung ineinander verwoben sind und die Anerkennung ihrer Leistungen und ihrer Liebenswürdigkeit sowie Lob für den Sohn entspannten die Situation am Ende dermaßen, dass sie sich mit einem Lächeln bedankte und 'ihren' Mann suchte." 
 

Kommentar:

Wie oft erledigen wir solche Aufgaben des biopsychosozialen Handelns im Praxisalltag, ohne uns dessen immer gleich bewusst zu sein? Dr.Rüter selber spricht von der "Wirksamkeit einer zugewandten, irgendwie gekonnten und erlernten, erlernbaren Intervention, getragen von einer Haltung". Vergleiche auch "Mader: Fakten - Fälle - Fotos" Kap. 12. 2. 4 "Das ärztliche Gespräch".

Weitere Ausführungen von Rüter zum  "Training fühlenden Gestaltens als einem Herzstück hausärztlichen Handelns" in seiner gleichnamigen Publikation.

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