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8.8 Pruritus, Urtikaria, Angioödem

Zusatzinfo

Wissenswertes

Juckreiz ist u. a. durch reflexartiges Kratzen charakterisiert. Der Kratzreflex gilt als einer der stärksten Reflexe der Menschen, der ohne Umweg über das Gehirn direkt im Rückenmark ausgelöst wird. Warum Kratzen eine Erleichterung von Juckreiz bedeutet, ist nicht geklärt.


"Juckreiz am ganzen Körper"

Prof. Dr. med. Reinhold Klein schildert in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017) anhand eines typischen Praxisfalles sein Vorgehen, das schließlich in eine "Therapie ohne Diagnose" mündete, wobei er letztlich eine Skabies nicht ausschließen konnte.
https://www.allgemeinarzt-online.de/a/fall-juckreiz-am-ganzen-koerper-1840494


Chronischer Juckreiz

Das Int. Forum for the Study of Itch (IFSI) unterscheidet klinisch 3 Gruppen (2007)

* Chron. Pruritus auf primär verändeter Haut
* chron. Pruritus auf primär unveränderter Haut
* chron. Pruritus mit Kratzläsionen

Insbesondere bei Älteren findet sich manchmal chron. Juckreiz, dem auch nach eingehender Untersuchung keine Ursache zuzuweisen ist. In diesen Fällen spricht man von "idiopatischem chronischen Pruritus".

Basistherapie: Effiziente Rückfettung, Hydratisierung, Stabilisierung der Hautbarriere. Phototherapie, insbesondere UVB (auch für Schwangere und Stillende geeignet !), Biologika wie Dupilumab und Nemolizumab. Merke: Für die Behandlung des chron.Pruritus gibt es derzeit keine zugelassenen Therapien (alle derzeit eingesetzten Therapien sind Off-Label-Therapien).

(Quelle: Repelnig M, Legat F (2021) Phototherapie bei juckenden Hauterkrankungen. Dermatologie & Plastische Chirurgie 3: 18-22)


Tabelle. Charakteristika des chronischen Pruritus

Charakteristikum

Pruritusform

Reines Jucken mit Ödem, Erythem

Histamininduzierter Pruritus

Jucken, Brennen nach Kratzen; Kratzen verstärkt wiederum Pruritus

Atopischer Pruritus

Pruritus oder Jucken und Stechen bei Reiben, Druck, Berührung. Kratzen wird vermieden

Mechanisch induzierter Pruritus

Pruritus nach Wasserkontakt, Temperaturwechsel

Aquagener Pruritus

Pruritus nach Schwitzen

Cholinerger Pruritus

Pruritus nach emotionalem Stress

Adrenerger Pruritus

Jucken mit schmerzhaften Qualitäten (Brennen, Stechen, Beißen, Bohren, Kribbeln)

Neuropathischer Pruritus

(Quelle: 115. Tagung der DGIM, Symptom Pruritus, Wiesbaden 2009)


Labor-Basisuntersuchungen

  • BSG/CRP
  • Blutbild (mit Differenzialblutbild)
  • Leber- und Nierenwerte
  • Hepatitis B/C-Ausschluss, metabolische Parameter

Häufig Pruritus auslösende Medikamente

  • Morphine
  • Antiphlogistika
  • Antibiotika
  • Betablocker
  • ACE-Hemmer
  • Zytostatika
  • Hydroxyethylstärke (HES)

Therapeutische Maßnahmen

  • Kühlende und antipruriginöse Substanzen (z. B. Menthol [z. B. Sebexol®-Creme, Lotio], Campher, Polidocanol [z. B. Optiderm®-Lotio, Creme oder Fettcreme], Harnstoff, Gerbstoffe [z. B. Tannosynt® als Creme oder Lotio]).
  • Einsatz rückfettender und feuchtigkeitsspendender Basistherapeutika.
  • Topische Kortikosteroide.
  • Cannabinoid-Rezeptor-Agonisten (Physiogel®A.I. Creme).
  • Patientenschulung

Weitere Informationen unter

www.juckreiz-informationen.de

www.neurodermitisschulung.de


Merke
Antihistaminika haben bei chronischem Pruritus im Alter, der nicht hauptsächlich über Histamin vermittelt wird, meist nur eine eingeschränkte Wirksamkeit.


Rezidivierende Angioödeme (Quincke-Ödeme)

Das Quincke-Ödem wird in der Allgemeinpraxis an der Grenze der regelmäßigen Häufigkeit (=0,3‰) beobachtet; dies ergaben fällestatistische Erhebungen in Allgemeinpraxen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den Jahren 1944, bzw. 1977–1988. Dabei wird das regelmäßige Vorkommen teils unter-, teils überschritten. W. Fink weist in ihrer 10-Jahres-Fällestatistik (1989-1999) das Quincke-Ödem mit Rang 249 als noch regelmäßig häufiges BE aus. Insgesamt betreute sie in diesem Zeitraum 11 Patienten in den Altersgruppen 16-90 Jahre.

Braun sah übrigens in 40 Praxisjahren bzw. unter 35–40 Fällen kein einziges familiäres angioneurotisches Ödem mit Erstickungsanfällen (Braun 1995, pers. Mitteilung).


Urtikaria durch Nahrungsmittel

Eine allergenfreie Kost gibt es nicht. Zu Testzwecken kann es jedoch notwendig sein, für einen begrenzten Zeitraum (2 bis maximal 4 Wochen) eine streng allergenarme Diät (Eliminations- oder Suchdiät) einzuhalten. Bei Kleinkindern hat sich folgender Kostplan als praktikabel erwiesen:

  • Reis- oder Getreideschleim,
  • gekochte Karotten,
  • eine Sorte Weizenbrot ohne Zusatzstoffe (kein Vollkorn),
  • eine Sorte (selbstgemachte) Konfitüre (Aprikosen),
  • etwas Salz,
  • Mineralwasser,
  • Mus aus geschälten und gekochten Äpfeln.

Bei Erwachsenen bewährt sich eine bestimmte allergenstandardisierte Kost zur Erkennung von Nahrungsmittelallergien. Sinn dieser Kost ist es, in den folgenden 10 Tagen nur wenige, in ihrer Zusammensetzung bekannte Lebensmittel zu essen und zu trinken, um damit die große Anzahl der möglichen Nahrungsmittelallergene auf eine überschaubare Menge zu reduzieren.

Vorausgesetzt, dass der Patient unter Einhaltung dieser Kost keines seiner (noch unbekannten) Allergene aufnimmt, werden sich die Beschwerden bessern. In diesem Falle sollte er nach 10 Tagen eine Such- oder Aufbaukost anschließen, indem er unter Beibehaltung der allergenstandardisierten Kost jeden 2. Tag ein weiteres Lebensmittel, Gewürz oder Getränk zu sich nimmt. Mit welchem Nahrungsmittel er anfängt, entscheidet der Patient selbst. Die Nahrungsmittel sollten jedoch nicht aus verschiedenen Grundstoffen zusammengesetzt sein.

Folgende Lebensmittel sind erlaubt:

Fleisch/Fisch

Rind, Lamm, Geflügel und alle Fischsorten, frisch kaufen und selbst zubereiten (kochen, braten, grillen), keine Fleischerzeugnisse und Wurstwaren, kein Geräuchertes

Gemüse

Karotten und Erbsen

Obst

Bananen oder Aprikosen (Dose)

Nährmittel

Kartoffeln, Reis (z. B. Wasa-Roggen Knäcke)

Brot

Eine Sorte, milchfrei (kein Mischbrot)

Brotaufstrich

Aprikosenmarmelade oder kalter Bratenaufschnitt (selbst zubereitet), Tartar (nur gesalzen)

Getränke

Kaffee, Tee, Mineralwasser

Fett

Butter, kaltgepresstes Olivenöl

Sonstiges

Zucker, Salz

Sobald der Betroffene bei der schrittweisen Wiedereinführung der Lebensmittel auf »sein« Allergen trifft, kommt es – in der Regel innerhalb von 6–24 h – zum erneuten Auftreten seiner Krankheitserscheinungen. Diese Lebensmittel müssen dann in Zukunft gemieden werden.


Weiterführende Internetadressen:


Fallbeispiel

Kasuistik 8.8-1: Hereditäres Angioödem:

Die heute 22jährige Frau berichtet ihrer Hausärztin:

"Jetzt weiß ich´s endlich seit der Uniklinik. Ich war doch früher immer wieder mal da bei Ihnen wg.Bauchschmerzen und Durchfall oder einer Schwellung an der Hand oder sonstwo."

Die Hausärztin läßt sich jetzt die Odyssee der jungen Frau ausführlich berichten:

Mit etwas 8 Jahren schwoll erstmals die Hand an. Da das aber auch gelegentlich bei der Mutter der Fall war, wurde "nie wirklich untersucht"."Später so ein-bis zweimal im Monat meine Schwellung." Mit 16 Jahren Mopedunfall mit Verlust der Schneidezähne. Jetzt Schwellung im Gesicht, die der Zahnarzt mit der Injektion in Verbindung brachte."Immer wieder mal  Bauchschmerzen und Durchfall, die ich auf meine Milchunverträglichkeit schob. Das wurde dann besser, wenn ich in solchen Momenten wenig trank oder aß. Für Schwellungen an der Hand taten Bandagen oder Kühlung gut."

Und wie wurde das endlich aufgedeckt?

"Ich war im Vorjahr auf Mallorca und bekam vorm Heimflug eine Schwellung im Gesicht. Das war für mich äußerst stressig. Die Schwellung ging bis in den Rachenraum, und ich bekam Atemnot. Den Sanitätern hatte ich von meiner Vermutung erzählt, dass das erblich sein kann. Ich hatte ja schon im Internet nachgeguckt. Der Notarzt am Flughafen war für meiner Schilderung  sehr aufgeschlossen und hat das dortige Krankenhaus informiert. Die haben mir dann gleich Blut abgenommen und die Diagnose gestellt. Seither werde ich hier in Deutschland in einer Spezialambulanz betreut und erhalte ein Medikament, das ich bei einer Attacke spritzen kann. Die Häufigkeit ist freilich von meinem Stresslevel abhängig. Ich bin im Studium sehr eingespannt. In heiße Länder mag ich nicht, da dort die Schwellungen häufiger sind. Die Diagnose ist jetzt für mich eine echte Erleichterung. Früher dachten alle bei meinen Bauchschmerzen, ich simuliere nur herum."

Kommentar:

Wahrlich eine Odyssee - allerdings bei Betrachtung im Nachhinein über 14 Jahre hinweg. Aus diesem Fall ergeben sich freilich mehr offene Fragen als einfach"e Antworten, z.B.

- Wie steht´s heute mit dem Anspruch des Allgemeinarztes, auch Familienmediziner zu sein? Wusste die Ärztin von den Handschwellungen bei Mutter und Kind?

- Wurde bei den Arzt-Patienten-Kontakten wegen Bauchschmerzen vielleicht auch mal gefragt : "Schon mal gehabt? " "Zusammenhang mit?" "Vermutung?" "Angst vor?" (Checkliste Nr.40)

- Wie wurde die "Milchunverträglichkeit" diagnostiziert? Lediglich aufgrund einer Vermutung?

- Ab welchem Zeitpunkt, bei welchem Ereignis sollte das fällestatistisch weit jenseits der regelmäßigen Häufigkeit liegende HAE zumindest bedacht werden?

- Wäre nicht für uns Hausärzte für solche raren Vorkommnisse, für die wir keinen Erfahrungshorizont haben, und die sich zudem noch meist recht uncharakteristisch präsentieren, ein Diagnostisches Programm nach Art einer "Checkliste für uncharakteristische Schwellungen" hilfreich? (Frank H.Mader)

Anmerkung zu HAE:

Die erniedrigte Aktivität von C1-INH ist durch eine zweite Blutabnahme zu sichern. Wenn die Blutuntersuchung nicht ausreichend ist, kann auch ein Gentest Aufschluss geben.

Hautartefakte
Psychische Störungen können Hautveränderungen zur Folge haben. Beim wahnhaften Ungezieferbefall bohren manche Patienten tiefe Ulzera in die Haut in dem Bestreben, mutmaßliche Parasiten zu entfernen (Smolle u. Mader 2005)
Urtikaria
Hautfarbene Quaddeln bei einer Schwitzurtikaria (Smolle u. Mader 2005)
Bild eines Arzneimittelexanthems
Arzneimittelexanthem, durch Lichteinwirkung aggraviert (Smolle u. Mader 2005)
Rubeoliformes Exanthem
Uncharakteristisches rubeoliformes Exanthem. Ein diskretes Exanthem mit katarrhalischen Symptomen und Fieber spricht für eine virale Genese (Smolle u. Mader 2005)
Pruritus senilis
Generalisierter Pruritus senilis mit ausgeprägten Kratzeffloreszenzen am gesamten Integument bei 78 jähriger Diabetikerin © F. H. Mader

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