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1.7 Abwartendes Offenlassen (AO)

Zusatzinfo

Wissenswertes

Englisch: watchful waiting; attentive observation; watchful expectancy
Französisch: le résultat de consultation restant ouvert
Quelle: Fink u. Kamenski 2000

Durch das „abwartende Offenlassen“ (AO) werden evtl. verhängnisvolle Festlegungen auf eine gar nicht vorliegende Gesundheitsstörung vermieden. Die Beobachtung des weiteren Verlaufs entscheidet, ob und wie die Diagnostik weiter geführt wird. Die diagnostische Lage wird also nicht verschleiert, sondern vielmehr in ihrer Wirklichkeit dargelegt. Die bisher übliche falsche Sicherheit, wobei der Arzt um die Richtigkeit seiner bloß vermuteten „Diagnosen“ zittern musste, entfällt.

 

Der Begriff Abwartendes Offenlassen, der in seiner Bandbreite den ganzen Umfang der ärztlichen Unsicherheit ausdrückt, bedeutet jedoch nicht etwa Untätigkeit, sondern Einsicht in die Notwendigkeit, dass die prognostischen Möglichkeiten auf der jeweiligen Stufe der Klassifizierung immer wieder von neuem überprüft werden müssen. Während der Arzt sich den Fall offen lässt, ist er ständig bereit, aktiv einzugreifen, sobald sich am Horizont der prognostischen Möglichkeiten Abwendbar gefährliche Verläufe abzeichnen. Sei es, dass er dann prophylaktisch Antibiotika gibt, sei es, dass er den Patienten in die Klinik einweist. In vielen Fällen erlaubt es die Lage jedoch, die Entwicklung weiterhin abwartend offen zu lassen und sich nur durch erneuten Besuch oder durch genau verabredetet Informationen, die der Kranke oder dessen Angehörige dem Arzt vermitteln, über den weiteren Verlauf zu orientieren.

(Th. v. Uexküll S. IX in Braun 1970)

 

Zeitraum des abwartenden Offenlassens

Der Zeitraum des AO kann evtl. mehrere Wochen betragen. Während dieser Zeit verschwinden in sehr vielen Fällen die geklagten oder beobachteten Beschwerden. Die meisten Patienten sind also längst wieder völlig gesund. Nur in einigen wenigen Fällen wird eine weitere Diagnostik durch den Hausarzt bzw. eine vertiefte ambulante Diagnostik im spezialistischen Bereich und in einigen ganz wenigen Fällen die stationäre Behandlung erforderlich sein, besonders wenn ein AGV zu befürchten ist.

Über den Zeitraum des AO wurde noch nicht geforscht. Es gibt heute hunderte von Leitlinien, wann der Arzt in diesem oder in jenem Fall sofort intervenieren oder in bestimmten Abständen stufendiagnostisch weiter vorgehen kann bzw. soll. Wie lange aber beispielsweise beim uncharakteristischen Fieberfall der Arzt abwartend offen bleiben kann, soll oder gar muss, ist nirgendwo festgelegt.

Freilich gibt es viele Einflussfaktoren (z. B. Leidensdruck des Patienten, multiple Beratungsprobleme, Alter, diagnostische Möglichkeiten, der Arzt selbst), die im Einzelfall zu teilweise erheblich unterschiedlichen Beurteilungen und damit Vorgehensweisen führen können.


Übung zum Abwartenden Offenlassen

Welche der nachfolgenden Gesundheitsstörungen schätzen Sie „eher leicht“ und welche „eher schwer“ ein? Diskutieren und beurteilen Sie den Zeitraum für das Abwartende Offenlassen bei den nachfolgenden Beratungsproblemen:

  • Akuter Kreuzschmerz mit radikulärer Symptomatik.
  • 39,5o rektale Temperatur bei sonst gesundem 7jährigen Kind.
  • 38,8o rektale Temperatur bei 80jährigem, der an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leidet.
  • Erstmalige Hämoptoe bei 50jährigem mit jahrelang bekannter Raucherbronchitis.
  • 1 positiver Hämoccult bei 2 weiteren negativen Stuhlbluttests im Rahmen der Vorsorge bei 40jährigem bzw. bei 70jährigem.
  • Einseitig leerer Hodensack bei 3 Monate bzw. 5 Jahre altem Knaben.
  • Anfertigung einer Röntgenaufnahme bei Distorsio pedis.
  • Kirschgroßer, gut abgrenzbarer Mammaknoten bei 40jähriger.
  • Erstmalig gemessener RR von 170/95 bei 75jähriger.
  • Akuter Brechdurchfall bei Kindern (1 Jahr, Schulkind, Jugendlicher).
  • Allmähliche Gesichtsfeldseingrenzung rechtsseitig.
  • Nächtlich spontan einsetzender heftiger Kopfschmerz.

Geteilte Verantwortung

Bei Fällen, die abwartend offen geführt werden, muss die Verantwortung zwischen dem Arzt und seinen Patienten geteilt werden. Der Kranke soll sich beobachten und bei allen unerwarteten Entwicklungen sofort mit dem Arzt Kontakt aufnehmen. Das freilich setzt voraus, dass der Patient vom Behandelnden die prognostisch wichtigen Informationen erhalten hat. Er muss auch wissen, was „unerwartet“ bedeutet.

Der Arzt, der einen Fall abwartend offen führt, macht den Patienten in angemessener Weise auf mögliche Verschlimmerung aufmerksam (z.B. „Wenn Sie übermorgen immer noch Husten mit Auswurf und Fieber um 38o haben, dann melden Sie sich bitte wieder bei mir!“). Der Patient soll sich auch melden, wenn neue Symptome oder neue Beschwerden hinzutreten, die er nicht zu deuten vermag. Dadurch wird ein Teil der Verantwortung auf den Patienten selbst übertragen.

Manchmal fragen die Patienten ihren Arzt, welche Leiden sie hätten; diese Frage könnte beim akuten Fall, den man abwartend offen lässt, folgendermaßen beantwortet werden (Braun et al. 2007):

„Soll ich Ihnen irgendetwas erzählen und mir selbst einreden, ich wüsste Bescheid?“

„Soll ich nicht lieber in der jetzigen unklaren Situation alle Möglichkeiten, wodurch Sie gefährdet sein könnten, immer im Auge behalten?“

„So leicht ist die Medizin nun einmal nicht, dass der Arzt die Krankheit immer gleich erkennen kann. Sonst müssten die Studenten nicht immer so lange lernen; es wären dann weder die zahlreichen Spezialisten noch die vielen Krankenhäuser nötig.“

Das ist schnell gesagt, und die Patienten begreifen den Sinn.


Dokumentation

Das Abwartende Offenlassen (AO) in geteilter Verantwortung mit dem Patienten erfordert die Dokumentation der Beratungsinhalte und möglicher weiterer Kontakttermine (z. B. „bei Verschlechterung sofort“, „in 3 Tagen, einer Woche, einem Monat“).



"Genehm.Nachdruck,Bulls Press Media Content 2013"


Fallbeispiel

Kasuistik 1.7-1: Treppensturz: „Ich blieb zunächst abwartend offen“

Ich wurde um 2 Uhr früh zu einem 40jährigen Patienten gerufen, der alkoholisiert offensichtlich die Treppe heruntergestürzt ist. Er wurde im Treppenhaus sitzend aufgefunden. Ich konnte keine Anzeichen für eine nennenswerte innere oder äußere Verletzung feststellen. Ein Gespräch war mit dem Patienten ohne Schwierigkeiten möglich. Ich ließ den Fall zunächst abwartend offen. Um 6.30 Uhr zweite Besuchsanforderung. Der Patient war offensichtlich kreislaufmäßig stark beeinträchtigt und am Rande eines Kollapses. Wegen des unklaren Bildes, das den Eindruck eines gefährlichen Verlaufes machte, wies ich den Patienten auf der Stelle ins nächste Krankenhaus zur Beobachtung ein. Ich dachte an eine Milzruptur und teilte das dem Kollegen auf dem Überweisungsformular auch mit. Die Probelaparotomie ergab den Befund einer Darmruptur. Der Mann wurde durch den sofortigen Eingriff gerettet.

Stichwörter

  • Sturz im Treppenhaus bei Alkoholisierung.
  • Abwartendes Offenlassen.
  • Kreislaufschwäche.
  • Darmruptur.
Kommentar:

Dieser Fall eines Kollegen aus einer Braungruppe wurde optimal geführt: Der Arzt verzichtete, trotz des zunächst banal erscheinenden Bildes, auf die Stellung einer Diagnose (die mit Sicherheit falsch gewesen wäre und die eine optimale Versorgung möglicherweise verzögert hätte). Stattdessen führte er den Fall abwartend offen. Sicherlich wurden die Angehörigen instruiert, beim Auftreten neuer Symptome sofort wieder anzurufen. Das geschah dann auch. Darauf wurde unverzüglich eingewiesen. Das restliche Lob gebührt den Chirurgen, die laparotomierten und die Darmruptur fanden und versorgten.

Kasuistik 1.7-2: Hypochonder: „Ich hatte auf eine Diagnose verzichtet.“

Ich wurde zu einer 20-Jährigen bestellt, die seit 24 Stunden fieberte. Mir fiel bei der gezielten Befragung außer Schnupfen weiter nichts auf. Die Harnuntersuchung mit dem Streifentest ergab keine Besonderheiten. Es wurde ein Antipyretikum verordnet. Da ich die junge Dame als Hypochonder kenne, wunderte es mich nicht, von mir tags darauf erneut angerufen zu werden. Beim Gespräch ergab sich nichts Neues. Ich bat sie um Geduld, die Besserung werde nicht lange auf sich warten lassen. 3 Tage später holte sie mich neuerdings ins Haus. Außer einem gelblichen Nasensekret war alles beim Alten. Nun verschrieb ich ein Antibiotikum. 1 Woche danach erhielt ich wiederum Nachricht von ihr und kam ins Haus. An der ganzen Situation hatte sich nichts geändert. Das Antibiotikum war von ihr nicht eingenommen worden. Nun überwies ich sie sofort ins Krankenhaus unter der Bezeichnung „uncharakteristisches Fieber“. Die dortige Diagnostik ergab einen M. Besnier-Boeck-Schaumann.

(Dr. med. K. A. aus W.-Y.)

Stichwörter

  • Uncharakteristisches Fieber/Morbus Besnier-Boeck-Schaumann
Kommentar:

Diesen Fall kommentierte R. N. Braun in seinem Buch „Mein Fall – Allgemeinmedizin für Fortgeschrittene“: „Wenn es überhaupt noch eines Argumentes  bedürfte, um uncharakteristisches Fieber (UF) als solches – und nicht als Grippe, Influenza, Erkältung usw. – zu diagnostizieren, so wurde es durch diesen Fall geliefert. Mir selbst ist in 40 Praxisjahren kein einziger Fall untergekommen. Nach den Lehrbüchern tritt ungefähr jeder 4. Fall stürmisch mit Fieber auf. Gelenkbeschwerden seien fast immer vorhanden. Nun, bei Ihnen gab es bloß uncharakteristisches Fieber. Die Krankheiten lesen eben keine Lehrbücher!“

Abwartendes Offenlassen
Abwartendes Offenlassen anno 1884.Aus:Klose:Allgemein-Medizin 1986

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