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1.6 Abwendbar gefährlicher Verlauf (AGV)

Zusatzinfo

Wissenswertes

Englisch: potentially dangerous condition; avoidably dangerous outcome (course)
Französisch: risques d’évolution grave évitable (REGE)

Der Begriff „abwendbar gefährlicher Verlauf“ wurde von Robert N. Braun Ende der 1950-er Jahre erstmals in die Literatur eingeführt und hat heute im deutschsprachigen Raum innerhalb der angewandten Heilkunde rasch Verbreitung gefunden. Unter diesem Wort wollte Braun gewisse mehr oder weniger dramatisch, aber auch harmlos in Erscheinung tretende Gesundheitsstörungen zusammenfassen, die durch prognostische Besonderheiten überragende praktische Bedeutung besitzen. Es geht dabei um Erkrankungen, die ohne ärztliche Behandlung entweder regelmäßig (wie das Portiokarzinom) oder regelmäßig häufig (wie die akute Appendizitis) lebensgefährdend ablaufen, während es durch die rechtzeitige, sachgemäße Therapie möglich wird, den sonst gefährlichen Verlauf in einem beachtlichen Prozentsatz aller Fälle abzuwenden.

Kein Allgemeinarzt wird in seiner Praxistätigkeit bei jedem Patienten auch die entferntest möglichen abwendbar gefährlichen Krankheitsverläufe diagnostisch in Betracht ziehen. Gewisse derartige Verläufe müssen jedoch problemorientiert bei den Patienten stets bedacht werden. Das gilt etwa für den Grünen Star beim akuten Kopfschmerz, obgleich das Glaukom in der Praxisarbeit nicht regelmäßig vorgestellt wird.

„In der Allgemeinpraxis kommt es nicht darauf an, dass man bei 100 Fällen 99-mal diagnostisch richtig liegt. Diese 99 Fälle wiegen federleicht gegenüber dem Blei des 100. Falls, in dem ein gefährlicher Verlauf nicht rechtzeitig abgewendet wurde.“ Robert N. Braun (1976)

Das Beiwort „abwendbar“ betont eine bestimmte Facette der Früherfassung: Wurde etwa eine Appendizitis übersehen, und ist evident, dass der Patient die Perforationsperitonitis nicht überleben wird, so wäre der Zeitpunkt der Abwendbarkeit verpasst. Dasselbe gilt für ein Malignom im Stadium der generalisierten Metastasierung. Auch hier sind die Würfel schon gefallen.

Trotz der überwiegend großen Seltenheit sind die AGVs im diagnostischen Alltag von eminenter Bedeutung. Sie treten meistens dramatisch genug in Erscheinung, um die Aufmerksamkeit des Arztes zu erregen. Selten sind sie so gut „getarnt“, dass hinter den vorgebrachten Beschwerden nicht etwas Bedrohendes vermutet würde.


Niedrigprävalenzbereich

Die Entscheidungssituation des Allgemeinarztes - im Gegensatz zu der des Spezialisten - wird oft mit dem Begriff „Niedrigprävalenz-Bereich“ beschrieben und damit als besonders schwierig bewertet. Eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für eine einzelne Erkrankung stellt jedoch einen Zustand geringer Entropie dar und ist damit der erstrebenswerte Zielpunkt eines Abklärungsprozesses. Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzoff et al schlagen daher in der ZFA (2012) vor, die Arbeitssituation in der allgemeinmedizinischen Praxis besser als „multiplen Niedrigprävalenz-Bereich“ zu bezeichnen.
https://www.online-zfa.de/article/unsicherheit-in-der-allgemeinmedizin/originalarbeit-original-papers/y/m/1306


Beispiele für (potentiell) abwendbar gefährliche Verläufe. (Die gemischte Aufzählung soll das bunte Vorkommen in der Wirklichkeit der allgemeinärztlichen Berufsausübung betonen)

-      Blutabgang per anum als Hinweis auf ein Malignom

-      Hämaturie als Hinweis auf ein Malignom

-      Hämoptyse als Hinweis auf ein Malignom

-      Hinweise auf eine Extrauteringravidität

-      Hinweise auf einen Knochenbruch

-      Hinweise auf einen Myokardinfarkt

-      Vermutete Einnahme einer Überdosis von Schlafmitteln

-      Bild eines Coma diabeticum

-      Bild einer akuten Appendizitis

-      Mögliche perforierende Augenverletzung

-      Bild einer Phlegmone

-      Bild einer akuten Meningitis und/oder Enzephalitis

-      Bild einer Hodentorsion

-      Bild eines akuten Glaukomanfalls


Tabelle. Die häufigsten von 144 verschiedenen zu bedenkenden bzw. auszuschließenden abwendbar gefährlichen Verläufen (AGVs) innerhalb der 300 regelmäßig häufigen allgemeinärztlichen Beratungsergebnissen

Häufigkeit

Beratungsergebnis

61

Malignome

13

Diabetes mellitus

9

Herzinfarkt

8

Fremdkörper (incl. Aspiration)

7

Depression

7

Tuberkulose (incl. Lymphknoten)

6

Peptisches Ulkus

6

Herzinsuffizienz, akut/chronisch

5

Psychosen

5

Intrakranielle, subdurale Blutung/Hämatom

5

Lungenembolie, -infarkt

4

Appendizitis

4

Hyperthyreose

4

Pneumonie

4

Pankreasaffektion

3

Adam-Stokes-Anfall

3

AVK

3

Fissur/Fraktur

3

Hörsturz

3

Thrombose


Tabelle. Beispiele weiterer wichtiger AGVs, die im Buch „Kasugraphie“ (Fink et al. 2010) nur einmal, höchstens zweimal aufgeführt werden, die jedoch für die Praxis von großer Bedeutung sein können.

  • Esstörungen (Anorexie, Bulimie),
  • Hoden-, Hydatidentorsion,
  • Intoxikation (auch pathologischer Rausch),
  • Extrauterine Gravidität,
  • Myokarditis,
  • Glaukom,
  • Netzhautablösung,
  • Ileus,
  • Borreliose,
  • Veneria pankreatitis.

Große Bedeutung in der Allgemeinmedizin besitzen jene Fälle, die im Ärztejargon u. a. als „grippale Infekte“ bezeichnet werden. Solche Jargonbenennungen, die in eine bestimmte Richtung denken lassen, sind besonders problematisch, da sich unter ähnlichen Krankheitsbildern gefährliche Krankheitsverläufe verstecken können (Fallbeispiele: „Die ‚Grippe‘, die aus dem Urwald kam“ und„Vier Ärzte haben versagt“). Die Anwendung des Fieber-Programms Nr. 1 und die fachsprachlich korrekte (da offene) Bezeichnung „uncharakteristisches Fieber“ (UF) lassen in alle Richtungen denken.

 

Aufklärung des Patienten

Wenn ein AGV möglich ist, muss der Patient durch den Hausarzt stets unmissverständlich darüber aufgeklärt werden, bei welchen Symptomen er sich zu welcher Zeit und an wen (z. B. Hausarzt, Klinik) zu wenden hat. Dies sollte auch in der Krankenakte des Patienten festgehalten werden: Eine solche Dokumentation wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Qualitätssicherung in der Allgemeinmedizin.

 

Dringlichkeit der Intervention

Die Dringlichkeit der Intervention hängt nicht nur vom jeweiligen Beratungsergebnis, sondern auch von weiteren Faktoren wie der Person des Patienten oder den äußeren Umständen ab (Beispiel: Suizidalität, Alkoholproblematik).

 

Malignome

Sie sind als entfernteste Möglichkeit stets zu berücksichtigen, solange nicht eindeutig feststeht, dass im gegebenen Fall keine bösartige Erkrankung dahintersteckt. Trotz ihrer Seltenheit ist bei den Malignomen – ausgenommen der Hautkrebs – die diagnostische wie die therapeutische Lage unbefriedigend.

 

Malignom- Therapie

Die 5- Jahres- Überlebensraten von Tumorpatienten haben sich in den letzten 40 Jahren um fast 20 % verbessert. Immer neue Therapieprinzipien oder Stoffgruppen finden Eingang in die Behandlung von Krebskranken, z.B. die Immuntherapie (Checkpointinhibitoren) bei bestimmten Karzinomen (Melanom, Lungenkrebs, Hals- Rachen- Karzinome, Nierenzell- und Urothelkarzinom oder Hodgkin- Tumore) - wie der Schweizer Onkologe Prof. Dr. Thomas Cerny in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt (2017) schreibt.
http://www.allgemeinarzt-online.de/a/wo-stehen-wir-heute-1807597


Erste Sätze: Übungen zum AGV

Beurteilen sie die folgenden “Ersten Sätze” im Hinblick auf mögliche AGVs. Diskutieren Sie, wie lange sie abwartend offen bleiben können!

  1. Mutter der 8-jährigen Simone: „Sie jammert seit über 3 Wochen über Bauchweh. Ich habe es auf die Aufregung zurückgeführt, weil sie einen Schwimmkurs mitgemacht hat. Aber heute hat sie auch über Halsschmerzen geklagt.“
  2. Rüstige, 78-jährige Frau, zurzeit im Urlaub hier: „Eigentlich ist das eine dumme Sache, aber nicht meine Idee gewesen: Ich soll zu Ihnen kommen, weil ich Blut im Stuhl habe. Heute früh habe ich richtig was in der Hose gehabt nach dem Stuhl. Ich muss Ihnen aber gleich sagen, dass ich Marcumar einnehme.“
  3. 38-jähriger Bauschlosser: „Vor 2 Tagen habe ich schlecht geschlafen. Am nächsten Tag (Montag) hatte ich Hinterkopfschmerz, wie ich ihn noch nie hatte, so dass ich um 15 Uhr die Arbeit abbrechen musste. 2 Aspirin haben mir überhaupt nichts gebracht. Zu Hause habe ich mich bis 17 Uhr hingelegt und geschlafen. Dann wollte ich frische Luft und bin in den Wald gegangen. Abends hat es dann über den ganzen Rücken gezogen (zeigt bis unterhalb der Schulterblätter). Um 21 Uhr bin ich dann zu einem Freund gegangen, der ist Krankengymnast, der hat Übungen mit mir gemacht, dann hat es leicht geknackst, dann war es nur ganz minimal besser. Um halb 11 Uhr nachts bin ich dann ins Bett gegangen und um 2 Uhr nachts aufgewacht. Dann habe ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen und im Morgengrauen 2mal erbrochen.“ Arzt: Fieber? „37,2 unter der Achsel.“ Arzt: Sonst noch Schmerzen? „Gliederschmerzen.“

Übung zum AGV

Ordnen Sie den einzelnen aufgeführten Symptomen/Symptomgruppen den (die) mögliche(n) Abwendbar gefährliche(n) Verlauf/Verläufe zu.

Symptom/Symptomgruppe

möglicher AGV

Blut im Stuhl

 

versorgte Wunde mit Rötung und Schwellung am 3. postoperativen Tag

 

vaginale Blutung in der Menopause

 

hohes Fieber mit Schüttelfrost

 

auffallende Schläfrigkeit bei Alkoholiker

 

auskultiertes Carotis-Stenosegeräusch bei Check-up

 


AGV und Ängste des Patienten

In vielen Fällen kennt auch der Patient die Bedrohung durch einen Abwendbar gefährlichen Verlauf (ohne dass er sich natürlich so ausdrücken würde), oder er verspürt die Bedrohung direkt in sich selbst („Ich verliere fortlaufend an Gewicht. Irgendwas muss in mir stecken!“). Für den Allgemeinarzt ist es daher wichtig, die häufigsten Befürchtungen und Ängste des Patienten zu kennen (vgl. I/2.4.4) und ihn offen darauf anzusprechen (Was befürchten Sie?).

Bereits beim ersten Patienten-Arzt-Kontakt muss grundsätzlich ein möglicher AGV bedacht werden (z. B. Müdigkeit als Hinweis für eine mögliche Depression; Gewichtsabnahme als Hinweis für ein mögliches Karzinom). In Einzelfällen muss der AGV sofort ausgeschlossen oder bestätigt werden (z. B. akute Atemnot als Hinweis für eine mögliche Lungenembolie; Präkordialschmerz als Hinweis für einen möglichen Herzinfarkt).


Merke
Die ärztliche Aufmerksamkeit muss sich immer auf die Abwendbar gefährlichen Verläufe (z. B. beim uncharakteristischen Fieber: „bestimmte Kinderkrankheiten“, Pneumonie, Erysipel, rheumatische Affektion) konzentrieren und hier wiederum sind die atypischen Verlaufsformen im Auge zu behalten (z. B. Appendizitis).


Unabwendbar gefährliche Verläufe

Das Verhältnis zwischen den überlebten und nicht überlebten ernsthaften Gesundheitsstörungen liegt in der Allgemeinmedizin etwa bei 250:1. Die Masse der Todesfälle in der Praxis tritt voraussehbar ein. Unter den Ausnahmen davon gibt es das plötzliche, rätselhafte Ableben bei vorher Gesunden, Behinderten oder bloß leicht Gestörten. Auch der Arzt kann, beispielsweise bei einer unglücklichen Verkettung widriger Umstände, schuld daran sein, wenn unabwendbare Krankheitsverläufe zustande kommen (R. N. Braun 1994).

Es gibt also unabänderlicherweise immer ein minimales Restrisiko, einen Menschen ausnahmsweise und ohne Schuld des Arztes infolge einer Verkettung unglückseliger Umstände an einen Abwendbar gefährlichen Verlauf zu verlieren. Damit müssen wir Allgemeinärzte, die Spezialisten, aber auch die Staatsanwälte leben“, schreibt R.N. Braun in seinem Buch „Mein Fall. Allgemeinmedizin für Fortgeschrittene.“ Beispiele für solche „schicksalhafte Verläufe“ sind:

  • Sekundenherztod bei vermeintlich Herzgesundem nach vorausgegangenem Check-up.
  • Plötzlicher Tod bei fulminanter Lungenembolie.
  • Suizid trotz Führung des Patienten.

Bei einigen wenigen Krankheiten kann die Unabwendbarkeit von vornherein klar sein (z.B. Aids).


Fahrlässigkeit

Das Landgericht (LG) Potsdam hat einen niedergelassenen Arzt, der im Notfalldienst einen Fehler machte, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Dabei stellte es u.a. folgendes fest:

„Fahrlässig handelt auch derjenige Arzt, der einen Patienten bei unsicherer Diagnose nicht unter Annahme der vital bedrohlichsten Erkrankung in eine Spezialklinik einweist, wenn hierdurch der Tod des Patienten früher eintritt“ (Az.:27 Ns96/07).


Fallbeispiel

Kasuistik 1.6-1: Die „Grippe“, die aus dem Urwald kam

Eine 30-jährige Krankengymnastin kam im Spätherbst zu mir, um sich wegen einer „fieberhaften Grippe“ ein Medikament verschreiben zu lassen. Klagen über Kopf- und Gliederschmerzen. Temperaturen zwischen 38° und 39°. Nach einer Woche Verschlechterung des Zustandsbildes: Die Frau kann nicht mehr aufstehen, Leibschmerzen mit Zentrum im linken Oberbauch. Brechreiz, Fieber bis 41°, Subikterus. Therapieresistenz gegen alle meine Mittel. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich von einer Safari-Reise quer durch Afrika (ohne Impfschutz, ohne sonstige Vorbeugung). Sofortige stationäre Einweisung. Entlassungsdiagnose: „Malaria tertiana“.

Stichwörter:

  • Vermutete Grippe: hohes Fieber mit Kopf- und Gliederschmerzen
  • Später Leibschmerzen und Brechreiz
  • Malaria tertiana
Kommentar:

R. N. Braun kommentiert den Fall des Kollegen in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt:

„Bei dieser Schilderung fällt auf, dass nur zwei diagnostische Bezeichnungen verwendet werden: am Schluss „Malaria tertiana“ und zu Beginn „fieberhafte Grippe“. Wir Ärzte haben sicherlich gelernt, dass man besser auf Festlegungen verzichtet, zumal wenn es keine virologischen Bestätigungen gibt. Vielleicht hätte sich der Fall rechtzeitiger klären lassen, wenn der Kollege die Checkliste Nr. 1 „für uncharakteristische Fieberfälle und deren fieberfreie Varianten (Fieber-Programm)“ verwendet hätte. Hier ist nämlich bereits bei der Patientenbefragung auch der Hinweis auf mögliche „Tropenreisen“ enthalten“.

Kasuistik 1.6-2: „Schrank verrückt, und jetzt tut’s vorne weh“

Im Silvester-Notarztdienst kam ein 33-jähriger Patient zu mir. Nach dem Verrücken eines schweren Schrankes seien vor 1 Woche ziehende Schmerzen in der linken Thoraxhälfte aufgetreten. Er hatte sich vor ½ Jahr einer Bandscheibenoperation unterzogen. Sonst keine ernsthaften Krankheiten (schlank, Nichtraucher). Ich fand einen punktuellen Druckschmerz in der vorderen Axillarlinie, den ich als Insertionstendopathie deutete. Thoraxauskultation, RR, EKG unauffällig. Besserung durch therapeutische Lokalanästhesie mit 1 ml Scandicain. Eine spätere Durchuntersuchung war vorgesehen. Am 2. Abend gleiche Untersuchung wegen wieder eintretender Beschwerden. Derselbe Lokalbefund mit der Auflage, mich bei stärkerem Schmerz zu verständigen, fahre ich beruhigt heim. Selbe Nacht um 3 Uhr Notruf: Der Patient habe im Schlaf geröchelt und sei nicht mehr ansprechbar. Sofortiger Hausbesuch (5 Min. später): Exitus bereits eingetreten. Obduktion wurde verweigert. Lag da ein Infarkt vor, ein Sekundenherztod auf myokarditischer Basis? Wie kann man sich vor solchen Erlebnissen schützen? Ich glaube, meine Pflicht getan zu haben. Im Rahmen der Operationsvorbereitung war der Patient ein halbes Jahr vorher in einer Universitätsklinik durchuntersucht worden. Alles unauffällig – und nun der plötzliche Tod. Ich weiß immer noch nicht, was ich hätte anders machen können.

(Dr. med. N. D. aus M.)

Stichwörter

  • Insertionstendopathie/plötzlicher Tod
Kommentar:

Ich selbst hätte bestenfalls ebenso gehandelt wie Sie, Herr Kollege. Da stimmt alles. Die optimale primäre Zuwendung, die Teilung der Verantwortung, die Nachuntersuchung, der Sofortbesuch in der Nacht. Weit und breit kein Verdacht auf einen AGV. Alle wesentlichen Kriterien einer programmierten Erstuntersuchung mit der Checkliste Nr. 6 „für länger als 1 Woche bestehende oder therapieresistente, und uncharakteristische Interkostalschmerzen (Interkostago) wurden erfüllt. Das Weitere war schicksalhaft. Solche Fälle gibt es nun einmal bei jedem Arzt, glücklicherweise selten mit fatalem Ausgang. Über die Todesursache möchte ich nicht spekulieren. Es gibt zu viele Möglichkeiten

An der Hochschule erfährt der Medizinstudent viel von den Krankheiten, von ihrer Diagnostik, Therapie und Heilung. Insgesamt gelangt er zu einem optimistischen Bild von der Medizin: Es kann nicht viel passieren, wenn rechtzeitig eine Diagnose gestellt wird. Darüber, wie die Patienten sterben, wird während der Ausbildung kaum gesprochen (R. N. Braun 1994 in „Mein Fall“).

Kasuistik 1.6-3: „Magenverstimmung“: Ans Schlimmste denken!

Ein niedergelassener Notdienstarzt wurde nachts zu einer Frau gerufen, die - wie sich später zeigte - einen akuten Hinterwandinfarkt mit den Symptomen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schmerzen in Rücken und Schulter und einem Missempfinden im linken Arm hatte. Der Kollege ließ sich durch die Angaben der Patientin in die Irre führen, so dass er die Übelkeit auf eine Magenverstimmung ("Eis gegessen"), Beschwerden in Brustwirbelsäule und Arm auf ihm berichtete "Abnutzungserscheinungen" und die Rückenschmerzen auf einen beim Notruf der Angehörigen irrtümlich genannten, aber nie statt gefundenen Sturz zurück führte.

Stichwörter:

  • Übelkeit, Erbrechen, Durchfall - "Magenverstimmung"
  • Beschwerden Rücken, Schulter, li. Arm - akuter Hinterwandinfarkt
Kommentar:

Nach Ansicht des Gerichts hätte der seit 8 Jahren niedergelassene Arzt an ein akutes Koronargeschehen denken, den Rettungswagen rufen und die Kranke zur Intensivstation bringen lassen müssen. Bei unklarer Diagnose ist laut Gericht im Notfalldienst vom Arzt stets die vital bedrohlichste Erkrankung anzunehmen.

Kasuistik 1.6-4: „Immer mal Schmerzen: Mal Magen, mal Brustkorb, mal Bauch, mal Rücken“

Ich hatte Jahrzehnte lang die 64-jährige Patientin hausärztlich betreut, die jetzt verstorben ist. Die Krankenakte dieser Frau ist lang: Mit 37 J, als ich sie übernommen hatte, M. Hodgkin Stadium IV mit Radio-Chemotherapie inkl. Splenektomie. 6 und 8 J später Rezidiv, danach diesbezüglich unauffällig. Mit 46 J Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, depressive Episoden. Mit 50 J Schenkelhalsfraktur mit TEP links. Danach immer wieder Rückenschmerzen. 3 J später öfters „Magenschmerzen“. Wieder 2 J später uncharakteristische „Brustkorbschmerzen“. Vielleicht war es die Pflegeüberforderung mit der Mutter, vielleicht der Konflikt mit dem Bruder. Mit 60 J Schmerzen rechte Flanke (Sono und Labor nichts Besonderes), 1 J später epigastrische Schmerzen, die im Liegen und bei Überwärmung zunahmen (2 J zuvor noch unauffälliges Stressecho; diskutiert wurde damals eine Koronarsklerose als mögliche Bestrahlungsfolge). Jetzt „Brustkorbschmerzen“ beim Walking. Wegen der jetzt festgestellten Hauptstammstenose aortokoronarer Bypass. In der Reha immer wieder Kreuzschmerzen mit Ausstrahlung in die Beine. Im MRT lediglich „Facettenarthrose“. Nach dem Bypass keine Brustkorbschmerzen mehr beim Nordic Walking. Allerdings klagte die inzwischen 62-Jährige wieder über „Magenschmerzen“: ÖGD unauffällig, MRT (wg. Allergie Kontrastmittel zunächst abgelehnt): „Pankreastumor weniger wahrscheinlich, keine besonderen Veränderungen im Vergleich zum CT vor 2 J“. 1 Mo später erneut MRT (diesmal mit Kontrastmittel): „Pankreaskopf und –korpus fast nicht nachweisbar, Pankreasschwanz verlagert“. Im Endosono jedoch 3 cm große retroperitoneale Raumforderung. Wegen zunehmender epigastrischer Schmerzen Einweisung auf die Universitätschirurgie. Dort „Adenokarzinom des Pankreaskopfes mit bilobulärer Leberfilialisierung“ diagnostiziert. Chemotherapie. 1 J später Sturz mit Tibiakopffraktur links. Wegen Kopfschmerzen, Verwirrung und Bewusstseinsverlust stationäre Einweisung: „Subarachnoidalblutung“. 2 Mo später im Rahmen der üblichen Mobilisation im Krankenbett Schenkelhalsfraktur rechts, die mit TEP rechts versorgt wurde (Histo: „maligne Zellen im Knochen“), 3 Wo später verstarb die Patientin auf der Palliativstation.

(Fallbeschreibung anhand der Krankenakte von Dr. Thomas Wiesemann, Östringen)

Stichwörter:

  • M. Hodgkin
  • Hypertonie, Diabetes mellitus, Depression
  • Brustkorbschmerzen / Hauptstammstenose
  • Magenschmerzen / Pankreaskarzinom
  • Kreuzschmerzen / Facettenarthrose
  • Kopfschmerzen mit Verwirrung / Subarachnoidalblutung
  • Schenkelhalsfraktur / Knochenmetastasen
  • unabwendbar gefährliche Verläufe
Kommentar:

Der Fall bietet unter dem Aspekt hausärztlicher Risikoabwendung eine ungewöhnliche Konstellation aus abwendbar gefährlichen und unabwendbar gefährlichen Verlaufsanteilen.

Braun beziffert das Verhältnis von überlebten und nicht überlebten ernsthaften Gesundheitsstörungen in der Allgemeinpraxis mit 250 : 1 (Braun 1994, S. 54). Diese gute Bilanz kommt allerdings – soweit es hausärztliche Diagnostik und Intervention und nicht spontane Selbstlimitierung betrifft – weit überwiegend mittels individuell-intuitiver Routine zustande (Braun/Mader 2005, S. 8f, 67ff).

Systematisch sind vorliegend abwendbar gefährlich Koronarsklerose und Subarachnoidalblutung, unabwendbar gefährlich das Pankreaskarzinom mit nachfolgender pathologischer Femurfraktur.

In chronologischer Folge gelang dem Hausarzt zeitnah die Aufdeckung abwendbar gefährlicher Verläufe (Koronarsklerose, Subarachnoidalblutung) und längerfristig hartnäckig die Aufdeckung des unabwendbar gefährlichen Pankreaskarzinoms. Aufschlussreich wäre zu erfahren, inwieweit diese erfolgreiche hausärztliche Diagnostik auf individuell-intuitiver Routine oder programmierter Diagnostik beruhte.

Prof. Dr. med. habil. Martin Konitzer, Schwarmstedt

Literatur:
Braun RN (1994) Mein Fall. Heidelberg, Springer
Braun RN, Mader FH (2005) Programmierte Diagnostik. 5. Auflage. Heidelberg, Springer

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